Tipping Points/The New Four Seasons

 
 
 
 
 
 

Nick Drake über Tipping Points

Ein Tipping Point oder Kipppunkt ist laut Wörterbuch „ein Zeitpunkt, an dem eine wich- tige Entscheidung getroffen werden muss oder sich eine Situation radikal verändert“. In den 1950er-Jahren wurde das Wort in den USA erstmals im Kontext von „white flight“ verwendet, also der „Flucht“ weißer Einwohner aus ihren Wohnvierteln aufgrund wachsender ethnischer Vielfalt... In der Wissenschaft bezeichnet ein Kipppunkt generell „eine Schwelle, bei deren Erreichen ein System sehr plötzlich seinen Zustand ändert“. Heutzutage steht das Wort im All- gemeinen für „kritische Schwellen, die nach ihrem Überschreiten zu signifikanten, exponenti- ell verlaufenden und irreversiblen Veränderungen des Erdklimas und der Ökosysteme führen“.

Allen genannten Definitionen gemeinsam ist eine Grundidee: Kipppunkte sind Punkte, nach denen es kein Zurück mehr gibt.

Damit kommen wir zum Ausgangspunkt unseres Projekts – dem Klimawandel. Immer ex- tremeres Wetter. Hitzerekorde und Korallenbleiche. Tornados, Wirbelstürme und vergiftete Luft. Erdrutsche, Entwaldung und Versteppung. Steigende Meeresspiegel, extreme Stürme und Überschwemmungen. Die großen Natursysteme werden instabiler, unvorhersehbarer und gewaltsamer. Und im Mittelpunkt dieser Disruption steht ein tiefes Gefühl des Verlusts.

Rachel Portman, Niklas Liepe und ich haben dieses Projekt von Anfang an als Antwort auf den Klimanotstand konzipiert: Wir wollten die beängstigenden, herzzerreißenden Folgen des Kli- mawandels aufzeigen, aber gleichzeitig mithilfe von Dichtung und Musik einen Weg durch die Düsternis finden – einen Weg der Hoffnung, der uns zu kreativem Handeln befähigt.

Zu Anfang beschäftigten wir uns mit einem scheinbar abgelegenen Thema: den klassischen Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, wie sie von Aristoteles definiert wurden. Zahlreiche Kulturen, vom antiken Griechenland über Babylon, Persien, Japan, China und Indien bis zu an- deren Kulturkreisen, erklären Wesen, Vielfalt und den Zusammenhalt des Universums mithilfe dieser vier als Grundformen betrachteten Elemente. Diese haben keine feste Gestalt, sondern verwandeln sich ständig, sie sind von Transformation und dynamischem Wandel geprägt – als sei das fünfte Element die Zeit selbst, das dramatische Mittel der Veränderung. Das berühm- teste Gedicht zu diesem Thema sind Ovids Metamorphosen. Sie beginnen mit folgenden Versen (in der klassischen Übersetzung von Reinhart Suchier):

Lust wird rege zum Sang, wie sich Formen in andere Körper wandelten. Götter, o seid – denn ihr ja habt sie gewandelt – meinem Beginnen geneigt und vom Uranfange der Schöpfung führt bis auf unsere Zeit des Gedichts fortlaufenden Faden.

Im Mittelpunkt des Systems der Elemente stehen das ständige Ringen um die Wiederherstel- lung von Gleichgewicht und Harmonie aus dem Chaos und der Versuch, die Verwandlungen und ihre Geschichten zu begreifen. Doch im metaphorischen Sinn betrifft es auch unser aller Innenleben, also die gelebte, persönliche und emotionale Ebene. Wir alle haben sicher schon Kipppunkte in unserem Leben erlebt. In diesem Sinne hoffen wir, dass es Tipping Points gel- ingt, das Alte mit dem ganz Modernen und das Epische mit dem sehr Persönlichen zu verbin- den.

Die immer schnelleren Veränderungen und neuen Formen des Klimanotstands, der durch die exponentiell ansteigende Konzentration industriell erzeugter, umweltschädlicher Treibhausgase in der Erdatmosphäre hervorgerufen wird, wirken sich verheerend auf die Ökosysteme, Leb- ensräume, Ozeane, Polarregionen und auf vulnerable Gesellschaften in der ganzen Welt aus.

Viele Völker, vor allem indigene, leben bereits seit Jahrzehnten in einer anderen Welt als der, in der sie geboren wurden.

Endzeitstimmung und ein Klima der Angst sind in der menschlichen Kultur und Gedankenwelt natürlich nichts Neues. Die realistischen, wissenschaftlich fundierten Beschreibungen des mutmaßlichen Verlaufs der weltweiten Krise ermöglichen uns jedoch eine ganz eigene Sicht auf die Lage zu Anfang des 21. Jahrhunderts. Wir sind uns der bestehenden Risiken und der Gefahr unumkehrbarer Veränderungen in höchstem Maße bewusst und wissen, dass wir uns an diversen Kipppunkten befinden. Doch dieses Wissen ist mit einem beängstigenden, man- chmal lähmenden Gefühl der Machtlosigkeit verbunden. Wir fühlen uns davon oft überwältigt.

Wie können wir eine Antwort auf die Krise finden? Wenn die Welt sich so anfühlt, als sei al- les in Auflösung begriffen – wie führen wir die Stränge dann wieder zusammen? Wie schaffen wir es, einzeln und gemeinsam aktiv zu werden? Wie bewältigen wir die unbekannte Welt der Zukunft? Wie könnten wir der Natur ihren Zauber zurückgeben, und wie würde das aussehen? Wie können wir unsere Fantasie einsetzen – also die menschliche Superkraft, die wir zweifellos alle besitzen –, um Veränderungen zu erreichen?

Tipping Points entstand aus diesen Fragen. In unseren Herzen spüren wir die Trauer und das Gefühl des Verlusts. Doch wir wollten auf keinen Fall ein reines Klagelied auf das Klima anstim- men. Wir wollten die schmerzhaften, komplizierten Realitäten anerkennen und herausarbeiten, aber uns vor allem an die Kraft und Schönheit der Natur und die lebensspendenden Wunder der Elemente erinnern und sie feiern. Die überwältigende Schönheit der Musik umfängt mit ihrer Harmonie den dunkleren Stoff der Gedichte. Beide Ausdrucksformen sind symbiotisch miteinander verbunden. Und wir hoffen, dass das vorliegende Album den Zuhörern ein Ge- fühl des Staunens, der schöpferischen Hoffnung vermittelt und ihre kreative Fantasie weckt.

Die Gedichte sind durch Gegenüberstellungen bestimmt, die sie ins Gleichgewicht bringen: Trauer und Schaffenskraft, Angst und Staunen, Zerstörung und Schönheit, Zusammenbruch und Erneuerung, Verlorenes und noch zu Rettendes. Ich hoffe, dass die Zuhörer sie als einen Aufruf empfinden, darüber nachzudenken, wie es uns gelingen kann, uns mit aller Kraft für Veränderungen einzusetzen.

Die Elemente verwandeln sich unablässig, sie sind in einem endlosen Fluss. Nichts ist sich- er. Und wir sollten nicht vergessen, dass „Kipppunkte“ auch positive, kreative Änderungen bewirken können. Veränderungen bringen seit je das Leben voran. Deshalb beginnt das erste Gedicht „Beschwörung“ mit den Worten „Dinge verändern sich“, und „Epilog“, das letzte Ge- dicht, schließt mit der Umkehrung: „Dinge verändern.“

„Luft“ handelt von den Wundern, die dieses Element hervorbringt – vom ersten Atemzug bis zu der Atmosphäre, die uns alle am Leben hält –, aber auch von seiner Verschmutzung. „Was- ser“ unterstreicht die Notwendigkeit dieses Elements für alles Wachstum – und thematisiert die massiven Wasserprobleme der Welt angesichts der immer schnelleren Erwärmung und des immer extremeren Klimas. „Feuer“ erinnert an die verheerenden Buschbrände, die Australien im Jahr 2019/20 heimgesucht haben; das Gedicht gemahnt uns aber auch an die riesigen ka- nadischen Waldbrände, die den Himmel über New York orange färbten, oder an das weltweite gezielte Abfackeln unersetzlicher Regenwälder. „Erde“ behandelt die katastrophalen Zerstörun- gen, die die Ausbeutung der Erde durch die Agrarindustrie bewirkt, und feiert gleichzeitig den geheimnisvollen Zauber der Natur.




Wolf Kerschek über The New Four Seasons

Als Niklas Liepe, dessen Arbeiten ich seit Jahren sehr schätze, mich damit beauftragte, die Vier Jahreszeiten von Vivaldi neu aufzulegen, war ich zunächst skeptisch, denn Vivaldi hat das meiner Meinung nach schon so gut gemacht, dass ich mich nicht sofort dazu berufen fühlte, daran irgendetwas ändern zu müssen. Seine Idee war aber, eine Version für Sinfonieorchester zu schaffen, die unser Zeit angemessen kompakter und größer ist, was ich für ein plausibles Unterfangen hielt.

So machte ich mich an die Arbeit, eine „cineastische“ Version dieses Werkes zu schreiben, aus- gehend von den Sonetten, die Vivaldi als Grundlage für seine Programmmusik gewählt hatte, welche den Wechsel der Jahreszeiten in seiner Heimat zu seiner Zeit beschreiben, ohne seine ursprünglichen musikalischen Ideen zu verbiegen oder „bemüht zu modernisieren“.

Aber wir haben alle bereits viel unterschiedliche Musik in unserem Leben gehört, mit komplexer Harmonik, populäre Genres oder Musik verschiedener Kulturen, mit denen wir auch jahreszeit- liche Phänomene der Natur assoziieren. So ist die Farbpalette des emotionalen Ausdrucks seit Vivaldis Zeit kontinuierlich gewachsen, derer wir uns heute bedienen können, um die Bilder im Kopf entstehen zu lassen, ohne die Essenz von Vivaldis Komposition zu kompromittieren. Da ich in Norddeutschland aufgewachsen bin, konnte ich es mir nicht verkneifen, meine Kind- heitserinnerungen an die Jahreszeiten dort mit einfließen zu lassen.

Wir finden in Vivaldis Partitur folgende Szenenbeschreibungen:

FRÜHLING
Das Eis schmilzt,
Der Frühling ist da
(Die dunkle Zeit endet, das Leben kehrt zurück...)
Vögel singen
(Vivaldi imitierte die Vögel seiner Heimat, ein paar meiner Heimat kamen dazu...) Gewitter
(Vielleicht ein wenig dramatischer...)
Des Schäfers Traum mit bellendem Hund
(Vivaldis manchmal fast anarchistischer Humor hatte mich durchaus beeindruckt...) Tänze mit Nymphen und Dudelsäcken
(wenn man zu wild tanzt, kann man auch mal Stolpern...)

SOMMER
Unerträgliche Hitze
(Wir befinden uns in einer postapokalyptischen Wüste) Vögel streiten
(Stattdessen könnte man mal wieder Raven gehen...) Sommergewitter
(Auf der großen Leinwand...)
Angst des Schäfers um seine Herde
(Ein ausgewachsenes Gewitter kann sehr bedrohlich sein...) Fliegen und Mücken
(Umschwirren uns...)
Noch ein Gewitter
(Welches uns wieder in zurück in den Club führt...)

HERBST
Erntedankfest
(Ausgelassen geht es auf dem Land zu...)
Und Wein
(..zuviel Wein, Lallen, Fallen und Swing tanzen)
Süßer Schlaf
(Träumende Bewusstlosigkeit...)
Die Jagt
(Auf Pferden, mit Jagdhörnern und Begeisterung)
Schüsse
(Nicht zu überhören...)
Das Tier flieht voller Angst,
Wird getroffen und verendet
(Vivaldi war auf Seiten der Jäger, ich habe mich auf die Seite des armen Tieres geschlagen)

WINTER
Alles gefroren
(Wie alles glitzert...)
Kalte Winde
(Sehr kalt...)
Zähne klappern und Stampfen vor Kälte
(Mit schweren Winterstiefeln...)
Drinnen am Feuer während es draußen regnet
(Wenn die Geigen regnen...)
Vorsichtige Schritte auf dem Eis
(Es ist schlitternd glatt...)
Und immer wieder fallen
(..heftig hinfallen...)
Der Winter ist dunkel aber wir wissen, der Frühling kommt wieder....

 
 
 
Niklas LiepeComment